Simon Rattle dirigiert Berio und Bartók
Zur Eindämmung des Coronavirus ist die Philharmonie seit 11. März geschlossen. Ein vorerst letztes Konzert unter Leitung von Simon Rattle konnte allerdings noch gegeben werden – ohne Saalpublikum, exklusiv für Besucher der Digital Concert Hall. Am Beginn stand Luciano Berios Sinfonia, die kreativ mit Klängen, Geräuschen und Sprache spielt. Höhepunkt des Programms ist Béla Bartóks zwischen Melancholie und vitalem Aufbegehren changierendes Konzert für Orchester.
Rätselhaft, experimentell, revolutionär – Luciano Berios Sinfonia für acht Stimmen und Orchester gehört zu den Meilensteinen Neuer Musik. Als Auftragswerk zum 125. Geburtstag des New York Philharmonic entstanden und 1968 unter Leitung des Komponisten uraufgeführt, vereint sie kaleidoskopartig ganz verschiedene musikalische Ideen und Aspekte: Sie ist analytisch und klangsinnlich zugleich, zitiert die europäische Musikgeschichte von Beethoven bis Stockhausen und spiegelt seismografisch gesellschaftliche Befindlichkeiten der 1960er-Jahre wider. Berio nutzt die acht Stimmen, die hier von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart realisiert werden, auf vollkommen neuartige Weise, lässt sie nicht nur singen sondern auch sprechen, flüstern, rufen und raunen. Dabei verwendet er Texte von Claude Lévi-Strauss und Samuel Beckett sowie den Namen des 1968 ermordeten Martin Luther King. Nicht die Botschaft der Texte steht im Vordergrund: »Der wechselnde Grad an Textverständlichkeit ist Teil der musikalischen Struktur«, betont der Komponist. Ein weiteres wichtiges Element seiner Sinfonia bildet das Scherzo aus Gustav Mahlers Zweiter Symphonie, das – so Berio – einem Fluss vergleichbar, »eine beständig wechselnde Landschaft durchläuft, manchmal in ein unterirdisches Bett versinkt und an einem ganz anderen Ort wieder ans Tageslicht dringt«.
Auch Béla Bartóks Konzert für Orchester zeichnet sich durch stilistische Vielfalt und musikalische Heterogenität aus. Bartók schrieb das Werk im Auftrag der Koussevitzky-Stiftung 1943 im amerikanischen Exil, bereits todkrank und in finanzieller Notlage. Dennoch ist es eine Hommage an das Leben: »Die allgemeine Stimmung der Komposition kann – mit Ausnahme des spaßigen zweiten Satzes – als ein gradueller Übergang vom Ernst des ersten Satzes und dem Klagelied des dritten zur Lebensbejahung des Schlusssatzes angesehen werden«, erklärte der Komponist. Bereits der Name des Stücks wirkt wie ein Anachronismus, doch Bartók erklärt ihn dahingehend, »dass im Laufe dieses in der Art einer Symphonie geschriebenen Orchesterwerks die einzelnen Instrumente und Instrumentalgruppen konzertierend oder solistisch auftreten«. Kennzeichnend für Bartóks Klangsprache ist die Auseinandersetzung mit der ungarischen und südosteuropäischen Volksmusik, die die Rhythmik, Melodik und Harmonik seiner Werke entscheidend prägte. So auch sein Konzert für Orchester, das zu einem der meistgespielten Stücke des Komponisten wurde. Am Pult der Berliner Philharmoniker steht Sir Simon Rattle, der nach einem klassisch-spätromantischen Programm seinen zweiten Auftritt in dieser Saison mit diesen beiden Meisterwerken des 20. Jahrhunderts bestreitet.
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