Nikolaus Harnoncourt dirigiert Brahms

»Die Kunst ist eben keine hübsche Zuwaage – sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein«, so formulierte Nikolaus Harnoncourt 1991 sein Verständnis von Musik. Diese Ernsthaftigkeit wie auch eine unverstellte Menschlichkeit wird in seinen Auftritten mit den Berliner Philharmonikern spürbar – so auch in diesem Konzert, das ganz der Musik von Johannes Brahms gewidmet war. Der Akademischen Festouvertüre und den Haydn-Variationen folgte die Erste Symphonie.
Nikolaus Harnoncourt wurde in den 1960er-Jahren zu einer Galionsfigur der historischen Aufführungspraxis. Auch mit den Berliner Philharmonikern entwickelte sich eine intensive Zusammenarbeit. Anders als vielleicht zu erwarten gewesen wäre, stand dabei nicht die Musik des Barock im Zentrum, sondern die der Wiener Klassik und Romantik. Das hier zu erlebende Konzert fand im Vorfeld der gemeinsamen CD-Aufnahmen von Johannes Brahms’ Symphonien, Ouvertüren und Orchestervariationen statt.
Brahms’ Akademische Festouvertüre bietet ein launiges, aber durchaus kunstvoll kontrapunktisches Potpourri aus Studentenliedern – der Hamburger verfasste sie als Dank, nachdem ihm 1879 die Ehrendoktorwürde durch die Universität Breslau verliehen worden war. Auch die Haydn-Variationen mögen im ersten Moment wie eine schlichtere Handgelenksübung anmuten. Außergewöhnlich ist jedoch bereits die Struktur des Choral-Themas – dass es tatsächlich von Joseph Haydn stammt, ist übrigens zweifelhaft – aus zwei fünftaktigen Perioden. In seinen Variationen spielt Brahms effektvoll mit dieser Unregelmäßigkeit. Sie prägt auch das als Passacaglia gestaltete Finale, dessen sich wiederholender Bass ebenfalls die Fünftaktigkeit aufgreift, bevor am Schluss der Choral noch einmal in Gänze erstrahlt.
Den Abschluss macht die düster-energische Erste Symphonie, die das Ergebnis eines langen, von Erwartungsdruck und Selbstzweifeln geprägten Entstehungsprozesses war. »Du hast keinen Begriff davon, wie unsereinem zumute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört,« klagte Brahms gegenüber seinem Freund Hermann Levi – und bezog sich dabei auf Ludwig van Beethoven. Schließlich vollzog Brahms’ mit seinem Gattungserstling eine Quadratur des Kreises: einen konservativen Fortschritt. Die entwickelnde Variation ist eine zukunftsweisende Technik, in der musikalische Gedanken über den klassischen Themendualismus hinaus organisch wachsen. Auch in der Lesart Harnoncourts wird deutlich, dass hier nicht nur auf die Tradition zurück-, sondern vor allem in die Zukunft vorausgeblickt wird.
© 1996 NHK