Andris Nelsons dirigiert Schostakowitschs Zehnte
Auch bei seinem fulminanten Debüt beim Orchester vor 15 Jahren präsentierte Andris Nelsons eine Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, seither hat er als Gastdirigent keine Saison der Berliner Philharmoniker ausgesetzt. In diesem Konzert ist Nelsons schließlich mit der vielschichtigen Zehnten zu erleben, in der der Komponist schonungslos mit dem Stalin-Regime abrechnet. Antonín Dvořáks leidenschaftliches Violinkonzert mit Solist Benjamin Beilman ergänzt das Programm, zu Beginn erklingt mit Cortège et Litanie von Marcel Dupré ein Werk für die Orgel.
Als wäre die Orgel mit ihren Manualen, Pedalen und Registern nicht schon komplex genug, scheint sie besonders diejenigen anzulocken, die noch größere Herausforderungen suchen: Der 2005 geborene Jan Liebermann spielt sein breites Repertoire bevorzugt auswendig – so wie seinerzeit Marcel Dupré. Der weltweit angesehene Komponist, Organist und Pädagoge führte 1920 sämtliche Orgelwerke von Johann Sebastian Bach ohne Noten auf. Hier treffen nun beide Virtuosen aufeinander, indem Liebermann Duprés Cortège et Litanie interpretiert – eine andächtige Choral-Prozession, die auf ein lebendigeres Gebet trifft.
»Wollen Sie mir ein Violinkonzert schreiben? Recht originell, kantilenenreich und für gute Geiger? Bitte ein Wort!« Dieser Bestellung seines Verlegers Fritz Simrock kam Antonín Dvořák 1879 nach. Allerdings drehte der vom Komponisten konsultierte Geiger Joseph Joachim den ersten Entwurf so kräftig durch die Mangel, dass Dvořák abschließend klagte: »Nicht einen einzigen Takt habe ich behalten.« Die Uraufführung fand erst 1883 statt – und Joachim übernahm nicht einmal den Solopart. An seiner Stelle spielte František Ondříček das mit virtuosen Kadenzen und folkloristischen Tanzweisen gespickte Werk, dessen Ruhepunkt der innige zweite Satz ist. Hilary Hahn muss ihr Gastspiel aufgrund einer Verletzung absagen, für sie übernimmt Benjamin Beilman, der bereits im Rahmen der USA-Tournee 2024 mit den Berliner Philharmonikern aufgetreten ist.
Andris Nelsons, langjähriger Partner der Berliner Philharmoniker, dirigiert anschließend die Zehnte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Den eindringlichen Klagen vereinzelter Bläser zu Beginn – Sinnbild des unterdrückten Individuums – steht die brutale Klangmaschinerie des Scherzos gegenüber, die der Komponist selbst als »Porträt Stalins« bezeichnet haben soll. Veröffentlicht im Dezember 1953, kurz nach dem Tod des Diktators, ist dieses Werk Abrechnung und Selbstbehauptung des zuvor gedemütigten Schostakowitsch – sein Namensmotiv D-Es-C-H ist selbst im fratzenhaften Stalin-Scherzo omnipräsent und triumphiert am Ende.
© 2025 Berlin Phil Media GmbH