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Arnold Schönberg: »Verklärte Nacht«

Arnold Schönbergs Verklärte Nacht, ursprünglich für Streichsextett komponiert, ist das erste Kammermusikstück überhaupt, dem ganz offen ein Programm zugrunde liegt. Das sorgte schon bei der Premiere für Erregung. Noch ein halbes Jahrhundert später erinnerte sich der Komponist: »Man darf nicht vergessen, dass dieses Werk bei seiner Erstaufführung in Wien ausgezischt wurde und Unruhe und Faustkämpfe verursachte. Aber es hatte sehr bald großen Erfolg.«

Schönbergs erstes mit Opuszahl veröffentlichtes Instrumentalwerk enthält Grundgedanken, die sein gesamtes Schaffen hindurch gültig bleiben: formale Elemente wie die entwickelnde Variation, die alles auseinander hervorgehen lässt, die rhythmische Verwandtschaft der Motive und die Vieldeutigkeit der Form – vor allem aber die Überzeugung, Musik über den Menschen in seiner Zeit zu schreiben. In diesem Punkt fand der junge Komponist reiche Anregung in den Gedichten Richard Dehmels. Der lief Sturm gegen Verklemmtheit und Moralzwänge, schrieb in hohem Ton über Begehren und Lust wie wenige vor ihm, über Mann und Frau und alles, was zwischen ihnen vorgeht.

Gegen Verklemmtheit und Moralzwänge

Um die Jahrhundertwende vertonte Schönberg ein ganzes Bündel von Dehmel-Texten und komponierte als Kulmination 1899 das Streichsextett Verklärte Nacht. In dem zugrunde liegenden Gedicht, fünfteilig angelegt, gehen »zwei Menschen« durch die Nacht: Sie gesteht, von einem anderen schwanger zu sein; er will das Kind als sein eigenes annehmen. Rede und Gegenrede, etwa gleich lang, sind eingefasst von drei kürzeren Szenenbeschreibungen. Die Nacht ist wolkenlos, der Mond strahlt, und was anfangs »kahl« und »kalt« daherkommt, erscheint am Ende »hoch« und »hell«.

Solche mit dem seelischen Erleben kurzgeschlossenen Naturschilderungen waren es, die Dehmels komponierenden Zeitgenossen reizvoll erschienen. Durch kleine Perspektivenwechsel bieten sich ganz andere Aussichten: eine Fundgrube für die farbschattierungsreich ausgereizte Tonalität. Schönberg folgt dem Grundriss des Gedichts und überlagert diesen Aufbau mit Andeutungen der Sonatenform, wie man sie auch in einer klassischen Symphonie vorfindet: Das Anfangsthema vom »Spaziergang im Park« lässt sich recht deutlich wiedererkennen, die beiden ihr und ihm gewidmeten Teile durchmessen beide einen großen Spannungsbogen, eine abschließende Coda ist getränkt in erlösendes D-Dur. Aber als Hörer darf man sich verlieren, so wie es dem Dichter erging. Als Dehmel einige Jahre nach der Uraufführung die Musik hörte, schrieb er an Schönberg: »Ich hatte mir vorgenommen, die Motive meines Textes in Ihrer Komposition zu verfolgen; aber ich vergaß das bald, so wurde ich von der Komposition bezaubert.«

Musikalische Farbenfülle

Bei Schönberg sind alle musikalischen Gedanken eng miteinander verwandt, und doch hat jeder eine ganz eigene Kontur; das dramatische Potential der Themen wird nach und nach herausgeschält und gesteigert. Zwar ist das in Dehmels Gedicht postulierte Moralgefälle zwischen den Geschlechtern, die Selbstdemütigung der Frau und das überwältigende Verzeihen des Mannes, heute nur noch schwer erträglich. Zum Glück weist die Musik weit über die Worte hinaus. In der Bearbeitung für Streichorchester (ent­standen 1916, revidiert 1943) wird die Farbenfülle noch größer, im differenzierten Wechsel zwischen Tutti und Solo, mit und ohne Dämpfer, spricht die Musik noch prägnanter.

Johannes Brahms: Symphonie Nr. 4

Johannes Brahms brauchte viel Zeit, um sich der Gattung der Symphonie zu nähern. Der Schatten Beethovens schwebte ehrfurchtgebietend darüber, die bewunderten Werke Schuberts und Schumanns machten für ihn die Aufgabe, würdiger Nachfolger zu sein, nicht einfacher. Erst mit 43 Jahren legte Brahms seine »Erste« vor und musste sie prompt von wohlmeinenden Verehrern als »Beethovens Zehnte« bezeichnet sehen. Zweifellos eine Fehldeutung. Denn den eigenen Ton, aus einem ganz anderen Lebensverständnis heraus, hatte Brahms da längst gefunden. Beethovens menschheitsumarmendes Freiheitspathos lag ihm fern. Frei sein hieß für Brahms auch einsam sein, Wehmut statt Hoffnung bildete den Grundton seines Schaffens.

In seiner in den Sommermonaten 1884 und 1885 entstandenen Vierten Symphonie geht der Blick noch weiter zurück. Die Verehrung für Bach findet Eingang und öffnet, fast paradox, die Sicht auf die Zukunft. Fast zögernd offenbart der erste Satz innerste Gedanken. Zwischen der Melodie (einer Tonfolge, die sich als Terzenkette verstehen lässt), den ineinandergreifenden Begleitfiguren und den Bläserakkorden, die den Klang auffüllen, ergibt sich ein dichtes Tongeflecht. Der zweite Satz horcht in musikalische Vorzeiten, hörbar in der kirchentonalen Prägung der Melodie des ersten Themas. Schicht um Schicht wird der Klang übereinandergelagert, zwei Themen werden vorgestellt und mit Abwandlungen wiederholt, in einer reizvollen »Mischung aus Vertrautem und Fremdartigem« (Egon Voss). Im scherzoartigen dritten Satz schlägt die Musik geradezu Haken, immer wieder wird der Vorwärtsdrang gestaucht und gestrafft, zugleich fast lärmend ein ausgelassener Kehraus vorgetäuscht.

Bach und Beethoven als Vorbild

Mit dem Finale kommt Bach ins Spiel. Das Bauprinzip von dessen Violin-Chaconne (die Brahms einst für Klavier bearbeitet hatte) wird auch Passacaglia genannt: Eine acht Takte lange Basslinie wird unverändert wiederholt als Fundament einer Variationenfolge. Dieses Prinzip legt Brahms dem Schlusssatz seiner Vierten Symphonie zugrunde, was selbst enge Freunde lange nicht bemerkten, als sie über die Form dieses Stücks rätselten. Außerdem greift Brahms Vorbilder Beethovens auf (die c-Moll-Klaviervariationen und die Finalvariationen der Eroica), um sich im selben Zug weit von ihm zu entfernen. Während Beethoven nämlich seine Themen zu Anfang klar umrissen hinstellt und sie dann auseinandernimmt, lässt Brahms sie nach und nach aus Keimzellen erwachsen. Und so gibt es hier gar kein eigentliches »Thema«, aus dem Variationen abgeleitet würden, sondern 32 Miniatur-Essays über einen Gedanken, der nur im Hintergrund präsent ist: »Bei einem Thema zu Variationen bedeutet mir eigentlich, fast, beinahe nur der Bass etwas. Aber dieser ist mir heilig, er ist der feste Grund, auf dem ich dann meine Geschichten baue. Was ich mit der Melodie mache, ist nur Spielerei.« In dieser »Spielerei« tritt das Thema mal schleichend in den Hintergrund, mal greift es wieder den Anfangsgestus auf. Anders als der zum Werk-Ende hin immer flächiger komponierende Beethoven verschränkt Brahms immer mehr Gedanken ineinander: Musik, die sich – fast in einer Verkehrung des symphonischen Modells – nicht an die Menge wendet, die für etwas begeistert werden soll, sondern an den Empfindsamen, der zu hören versteht.

Brahms zweifelte selbst, ob diese Musik wohl überhaupt Freunde finden würde. Doch seine Befürchtungen waren unbegründet. Als der Komponist die von ihm selbst geleitete Uraufführung vorbereitete, hörte auch Hans von Bülow zu, später der erste Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Sein Eindruck hat heute noch Bestand: »Eben aus der Probe zurück. Nr. IV riesig, ganz eigenartig, ganz neu, eherne Individualität. Atmet beispiellose Energie von A bis Z.«

Malte Krasting

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