Sir Simon Rattle mit Sibelius, Ravel und Debussy beim Lucerne Festival
500 begeisterte Fans mussten an der Abendkasse des Lucerne Festival abgewiesen werden – so groß war der Andrang, als der damalige Chefdirigent Simon Rattle bei diesem Gastspiel der Berliner Philharmoniker in der Schweiz einen mutigen Programmbogen wagte: Ligetis schwebende Atmosphères gingen fließend in Wagners Vorspiel zu Lohengrin über, bevor das Orchester Sibelius’ Vierte Symphonie präsentierte. Jeux, ein »getanztes Gedicht« von Debussy, und Ravels Daphnis et Chloé rundeten das Konzert leichtfüßig ab.
Trotz seines Ausnahmestatus als gefeierter Nationalkomponist Finnlands war das Leben von Jean Sibelius alles andere als sorgenfrei. Er war seit seinen Studienjahren hoch verschuldet und litt an Alkoholproblemen mit gesundheitlichen Folgen: Um 1910 unterzog er sich wegen des Verdachts auf Kehlkopfkrebs mehreren Operationen. Im Folgejahr schloss er die Arbeit an seiner Vierten Symphonie ab. Ihre bestürzend raue Klangsprache geht bis an die Grenze der Tonalität – mit besonderer Bedeutung des Tritonus. Die kantig gestalteten Themen, schneidend abrupte Abschlüsse und die scheinbare Zusammenhanglosigkeit der Strukturen könnten Sibelius’ persönliche Bedrängnisse dieser Zeit widerspiegeln. Das Finale endet desolat in a-Moll – ohne erkennbaren Rhythmus oder Melodie. »Ein Mensch zu sein ist jämmerlich«, zitierte Sibelius den schwedischen Schriftsteller August Strindberg in Bezug auf seine eindringlich-geheimnisvolle Vierte.
Ein Ausdruck stetig wachsender Bedrängnis wohnt auch dem einleitenden Werk von György Ligeti inne. Die Uraufführung von Atmosphères 1961 verhalf dem Komponisten, sich endgültig in der Neuen Musik zu etablieren. Ligeti artikuliert hier erstmals in einem Werk seine Idee einer »statischen Musik«: Völlig gelöst von traditioneller Formgestaltung, entsteht eine kontinuierlich wachsende, im Innern komplex gearbeitete Klangfläche. Fließend lässt Simon Rattle das Stück hier in Richard Wagners Vorspiel zu Lohengrin übergehen. Dessen ätherisch verklärtes Leuchten entfaltet im direkten Kontrast umso mehr Kraft und Wärme.
Claude Debussy setzte sich intensiv mit Wagners langem Schatten auseinander. In seiner Ballettmusik Jeux verwandeln sich kleine Intervallzellen in immer unterschiedliche Farben und stiften so assoziativ Einheit. »Ein absolutes Meisterwerk« ist Maurice Ravels Daphnis et Chloé für Sir Simon Rattle, »man könnte an dem Stück mindestens zehn Jahre die Theorie der Orchestrierung lehren«.
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